Künstliche Eingriffe in den Organismus gelten allgemein als Körperverletzung, wenn der Betreffende nicht seine ausdrückliche Einwilligung dazu erteilt hat. Gemäß Grundgesetz besitzt jeder das Recht auf körperliche Unversehrtheit.
Das ist korrekt nach deutschem Recht, dennoch löst das eine ethische Diskussion aus meiner Sicht nicht. Etliche Faktoren haben Einfluß auf die Entwicklung eines Kindes im Mutterleib. Das was die Mutter tut ebenso, was sie isst, ob sie raucht. Wie man das im einzelnen bewertet ist eine Sache, die eine Gesellschaft in die Welt hineindeutet. Nehmem wir also an Autismus würde durch eine Impfung ausgelöst. Würde das das Selbstempfinden von Autisten verändern? Vielleicht wäre das der Fall, aber doch dann nur aus dem Wissen heraus, daß es nach Stand der Wissenschaft nicht genetisch vererbt würde, sondern eben durch eine "Nebenwirkung" entstehen würde. Autismus selbst würde sich aber nicht geändert haben. Also ist die eigentliche Frage, um die es hier geht die Reaktion behinderter Bevölkerungsgruppen auf kulturelle Vorgänge, wozu auch die Art zählt "Wissen" zu bestimmen.
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die allgemein als Behinderung oder Schaden gelten
Ich denke es ist sinnvoll hier zumindest das halbsoziale Behinderungsverständnis der Behindertenrechtskonvention anzulegen, wonach Behinderung durch das Vorhandensein von Barrieren hergeleitet wird, und nicht aus Personeneigenschaften.
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so sind dies Ursachen, die zu vermeiden sind im Hinblick auf die Unversehrtheit.
Wie antwortest du jemandem, der die Annahme vertritt es gäbe "Gendefekte" (eine kulturell bedingte Wertung von natürlichen Vorgängen, die an sich keinerlei Wertung aufweisen) und es sei ein Schaden, wenn diese Gendefekte in Samenbanken nicht aussortiert würden? Diese Gendefekte seien zu vergleichen mit "verunreinigten" oder "fehlerhaften" Arzneien?
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Der Zeitpunkt des Eingriffs ist unerheblich, wobei sich über Ungeborene immer wieder gestritten wird, ab wann sie keine "Zellhaufen" mehr sind, sondern Menschen (im Fall von Menschen).
Nach deutschem Recht ist der Zeitpunkt zumindest schon ziemlich klar definiert.
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Zu argumentieren, dass gesetzeswidrige Ursachen (mit nachrangigen gesellschaftlichen Behinderungsfolgen) geschützt werden sollten, empfinde ich als Haare sträubend.
Es geht hier wie erwähnt um eine ethische Diskussion, für die gesetzliche Bestimmungen nicht entscheidend sind. Es würde ja auch keine ethischen Diskussionen erübrigen, wenn per Gesetz festgelegt würde, daß Kinder mit bestimmten Genen immer abgetrieben werden müßten. Also sind wir hier gezwungen tatsächlich selbst völlig frei zu denken, was natürlich nicht ausschließt, daß sich jemand hinter die Maßstäbe bestimmter Gesetze stellt.
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Zu fordern, dass bestimmte Menschengruppen "erhalten" werden sollten, was in den Fällen künstlicher Eingriffe, die zu Verletzungen der Unversehrtheit führen, bedeuten würde, dass ganz bewusst Körper verletzt und Gesetze gebrochen werden müssten, ist meiner Meinung nach ethisch nicht vertretbar.
Abgesehen vom oben schon ausgeführten: Stellen wir uns vor es gäbe eine starke Conti-Pride-Bewegung die eben dies verhindern will und die dafür eintritt, es nicht mehr als schädliche Nebenwirkung zu werten, wenn Kinder als Contis zur Welt kommen. Denn es ist wohl kaum zu leugnen, daß das Gesetz gar nicht klar festlegt, was als Schaden betrachtet werden kann und hier dann eben wieder durch kulturelle Vorstellungen erst eine Unterscheidung in "gesunde Vielfalt" und "Schaden" vorgenommen wird, die keineswegs so ganz selbstverständlich ist?
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Dass manche Eingriffe so früh im Leben erfolgen, dass der Organismus praktisch nicht selbst urteilen kann, wie es ihm ohne diesen Eingriff ergangen wäre und dass er sich nachfolgend damit arrangieren kann, weil er nichts anderes kennt oder kennen will, dürfte meiner Meinung nach nicht für Rechtfertigungen herangezogen werden, künstliche Eingriffe zu befürworten, deren Resultate bekannt sind und die formal betrachtet eine Verletzung darstellen (mit nachrangigen gesellschaftlichen Behinderungsfolgen).
Stellen wir uns dann eine Gesellschaft vor, in der Contis völlig selbstverständlich in die Gestaltung der Gesellschaft einbezogen sind, so daß diese Eigenschaft genauso wenig behindernd wirkt wie Linkshändigkeit heute. In so einer Gesellschaft wäre dann vielleicht zwar irgendwann erkannt, daß ein bestimmter Wirkstoff die Kinder zu Contis macht, aber das würde dann vielleicht ebenso wenig als Schaden betrachtet wie ein Mittel, von dem bekannt wäre, daß es die Wahrscheinlichkeit erhöht, daß Kinder Linkshänder werden? Was lernen wir aus diesem Gedankenspiel?
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Wenn es anders wäre, müssten Langzeitfolgen durch Psychopharmaka begrüßt werden, was offenkundig nicht der Fall ist. Weil es zu "wenig" Menschen mit ausgeprägten Verätzungen gibt, müssten nach der Logik mehr Menschen verätzt werden, damit die Verätzten nicht "aussterben"?
Das sind Fragen, um die es hier geht, ja. Und zwar mit dem Ziel eine möglichst objektive Regel zu finden, die eine Unterscheidung ermöglicht zwischen Personeneigenschaften, die die Gesellschaft verhindern sollte und solchen, die sie nicht verhindern darf. Und aus meiner Sicht kann hierbei die Entstehung einer Eigenschaft nicht das entscheidende Kriterium sein, da dies eben darauf hinauslaufen würde, daß vo der Weltwahrnehmung völlig identische Eigenschaften im einen Fall als Schaden betrachtet würden, den es zu verhindern gilt und im anderen Fall als Eigenschaft die nicht durch politische Maßnahmen in ihrem Bestand angetastest werden darf.
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Oder die Behindertenrechtskonvention wäre überflüssig, wenn gemeint würde, künstliche Eingriffe seien ganz natürliche Vorgänge, weil sie durch Menschen erzeugt werden.
Die BRK befasst sich praktisch gar nicht mit dieser Thematik, sondern mit gesellschaftlicher Behinderung. Das ist ein ganz anderes Thema.
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Dann wären sämtliche gesellschaftlich bedingten Behinderungen ganz natürlich und würden einfach zum Dasein gehören.
Nein, Behinderungen müssen beseitigt werden. Die sind aber etwas anderes als Personeneigenschaften (die Konvention bezeichnet diese als "impairment") um die es in dieser Diskussion geht. Völlig verschiedene Themen also.
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Es würde bedeuten, dass auch die anderen gesellschaftlichen künstlichen Barrieren "schützenswert" wären.
Nein.
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Würden sie abgebaut, könnte es bedeuten, dass Menschen, die heute als hochgradig autistisch gelten vielleicht gar nicht mehr als autistisch gelten würden.
Nein, weil es beim Abbau von Barrieren darum geht Teilhabe zu ermöglichen (nicht zu erzwingen). Teilweise berechtigt ist dieser Einwand jedoch, soweit er sich auf die Argumentation bezieht, man müsse lediglich vom Zustand einer Person ausgehen und solle nicht die Entstehung des Zustandes beachten. Hierzu wäre eine weitere Diskussion in der Tat interessant.