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55555

(Standard)

geändert von: 55555 - 05.04.12, 14:37:17

Die Ziele der DPOs einzelner Behindertengruppen sind teilweise vollkommen gegensätzlich. Dieser Thread versucht in der Tiefe zu verstehen warum das so ist.

Wenn ich mir Gehörlose und Conterganis betrachte, kann ich zunächst nicht erkennen, warum die eine Gruppe zumindest teilweise für ihren Erhalt kämpft, die andere aber dafür, daß sie ausstirbt. Warum betrachten sich Gehörlose nicht als Geschädigte, weil sie ja nicht hören können (schlimmschlimm) und warum präsentieren Conterganis nicht stolz ihre Veranlagung und verdammen die Ansicht es sei vorteilhafter längere Arme zu haben nicht nur in der Sache, sondern auch noch mithilfe der Schaffung eines Spezialbegiffs a la Audismus?

Nur wenn ich Wissen über die Hintergründe kann ich Unterschiede feststellen: Gehörlosigkeit wird teilweise genetisch vererbt, Conterganis entstehen, wenn die Mutter während der Schwangerschaft eine bestimmte Substanz einnimmt. Aber begründet das automatisch eine derart gegensätzliche Wertung der eigenen Veranlagung? Bisher kann ich das nicht finden, vielleicht verhilft mir jemand zu neuen Erkenntnissen.

Die Klärung dieser Frage hat enormes Gewicht, denn es steckt dahinter nicht weniger als die Frage in welche Dinge eine Gesellschaft ethisch korrekt handeln überhaupt eingreifen darf. Wären Conterganis schlichtweg eine Gruppe wie Schwarzhaarige, dann wäre es hochgradig unstatthaft die Entstehung neuer Conterganis auf gesellschaftlicher Ebene vermindern zu wollen. Sind Conterganis Beschädigte, dann könnte die Gesellschaft hier regulierend eingreifen, so wie es der TÜV tut, damit es weniger Menschen mit abgerissenen Fingern, etc. gibt. Wären Conterganis eine ethnische Minderheit, dann würden eventuell sogar Förderprogramme zur Erhaltung der Gruppe in Betracht kommen.

Also: Wie kommt es zu diesen krassen Selbstbewertungsdifferenzen? Ich bin gespannt auf eure Anregungen.

P.S.: Falls der Begriff "Conterganis" nicht politisch korrekt sein sollte, bitte ich um einen Hinweis.

Ein deutsches Sprichwort sagt: "Unter den Blinden ist der Einäugige König!" Aber dieses Sprichwort stimmt nicht: "Unter den Blinden kommt der Einäugige ins Irrenhaus!"

Heinz von Foerster
05.04.12, 14:36:26
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Rauhreif

(Standard)

Könnte es an der Position liegen, die Versicherungen einnehmen?
Ist ein "Fremdverschulden" Dritter auszumachen, gilt es als Schaden, ist es ein "Geburtsfehler" gilt es als Behinderung?

Mir sagte eine Schwester eines Conterganis, dass das Medikament (unter anderem Namen?) in Südamerika immer noch auf dem Markt sei, wegen des Analphabetismus dort aber mit Piktogrammen.

Erfährt das "Fremdverschulden" bei Körperschäden weltweit die gleiche Bewertung oder ist das Vorkommen von Conterganis nur in den Staaten als Schaden bewertet, in denen die möglichen finanziellen Mittel und einlegbaren Rechtsmittel über "eine Form des Seins" oder einen "geschädigten Menschen" entscheiden?
06.04.12, 01:16:10
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Majorie54

(Standard)

So ist es Rauhreif - Conterganer wurden durch Thalidomid im Mutterleib geschädigt. Ihr Schädiger ist also bekannt. Autisten, Gehörlose, Blinde usw. haben ihre Behinderung vielleicht auch schon im Mutterleib bzw. bei der Geburt bekommen aber sehr oft nicht nachweisbar was der Auslöser dazu war. Aber die Contis sehen sich nicht nur als Geschädigte sondern auch als Behinderte aber auch bei den Contergangeschädigten gibt es viele Gehörlose aber die Ursache ist unterschiedlich. Die verschiedenen Behinderungsarten bei den Contergangeschädigten kommen deshalb vor weil es davon abhängig war zu welchem Zeitpunkt der Entwicklung des Fötus die Mutter Contergan bzw. Thalidomid einnahm.
06.04.12, 15:08:18
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55555

(Standard)

Das was mich vor allem interessiert liegt tiefer. Autistic Pride und Deaf Pride wehren sich aktiv gegen die Einstufung als geschädigt. Wir wollen die Gesellschaft davon abhalten Maßnahmen zu ergreifen, die unseren Nachwuchs bedrohen. Soweit ich sehe hat das auch nicht unmittelbar damit zu tun, ob man die Entwicklung von Genen herleitet oder von Substanzen. Im Autismusbereich hatten wir vor einigen Jahren die These, daß Autismus durch Impfstoffe verursacht würde (es gibt da etliche derartige Thesen). Für mich würde das keinen Unterschied machen, im Gegenteil würde es die Möglichkeit eröffnen Nichtautisten zu heilen (ich drehe den Spieß für die Diskussion einfach mal um).

Ein deutsches Sprichwort sagt: "Unter den Blinden ist der Einäugige König!" Aber dieses Sprichwort stimmt nicht: "Unter den Blinden kommt der Einäugige ins Irrenhaus!"

Heinz von Foerster
06.04.12, 15:16:27
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Rauhreif

(Standard)

Es trifft zu, dass in keinem Fall eine Begründung zur Aussortierung erlaubt sein dürfte. Lenken wir das Denkmodell doch von einem Minderheitenvorkommen auf Mehrheitsvorkommen, um es verständlicher zu machen:

Ob es wohl Mehrheitsentscheidungen für Abtreibungen bei Diabetes, Herz- und Kreislauferkrankungen, Allergien und sonstigen "Volkskrankheiten" geben könnte?
Vielleicht nicht, weil die Entscheidenden sich mit sich selbst solidarisieren würden? Dann wäre wohl nicht zu übersehen, dass die Entscheidungen auch oder besonders durch die herrschenden Machtverhältnisse zustande kamen und weiter kommen?

Wäre, um fatalen Verdrängungen vorzubeugen, im Bundestag oder in sonstigen Entscheidungsgremien eine "Behinderten-Quote" hilfreich?
07.04.12, 00:01:20
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BR2

(Standard)

Künstliche Eingriffe in den Organismus gelten allgemein als Körperverletzung, wenn der Betreffende nicht seine ausdrückliche Einwilligung dazu erteilt hat. Gemäß Grundgesetz besitzt jeder das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Kommt es durch künstliche Eingriffe in den Organismus zu Veränderungen, die allgemein als Behinderung oder Schaden gelten (z.B. falscher Lungenflügel entfernt, erhöhte Lichtempfindlichkeit durch bestimmte Medikamente mit nachfolgenden Verbrennungen der Haut, Langzeitfolgen durch Psychopharmaka etc.), so sind dies Ursachen, die zu vermeiden sind im Hinblick auf die Unversehrtheit. Der Zeitpunkt des Eingriffs ist unerheblich, wobei sich über Ungeborene immer wieder gestritten wird, ab wann sie keine "Zellhaufen" mehr sind, sondern Menschen (im Fall von Menschen).

Zu argumentieren, dass gesetzeswidrige Ursachen (mit nachrangigen gesellschaftlichen Behinderungsfolgen) geschützt werden sollten, empfinde ich als Haare sträubend.
Zu fordern, dass bestimmte Menschengruppen "erhalten" werden sollten, was in den Fällen künstlicher Eingriffe, die zu Verletzungen der Unversehrtheit führen, bedeuten würde, dass ganz bewusst Körper verletzt und Gesetze gebrochen werden müssten, ist meiner Meinung nach ethisch nicht vertretbar.

Dass manche Eingriffe so früh im Leben erfolgen, dass der Organismus praktisch nicht selbst urteilen kann, wie es ihm ohne diesen Eingriff ergangen wäre und dass er sich nachfolgend damit arrangieren kann, weil er nichts anderes kennt oder kennen will, dürfte meiner Meinung nach nicht für Rechtfertigungen herangezogen werden, künstliche Eingriffe zu befürworten, deren Resultate bekannt sind und die formal betrachtet eine Verletzung darstellen (mit nachrangigen gesellschaftlichen Behinderungsfolgen). Wenn es anders wäre, müssten Langzeitfolgen durch Psychopharmaka begrüßt werden, was offenkundig nicht der Fall ist. Weil es zu "wenig" Menschen mit ausgeprägten Verätzungen gibt, müssten nach der Logik mehr Menschen verätzt werden, damit die Verätzten nicht "aussterben"?

Oder die Behindertenrechtskonvention wäre überflüssig, wenn gemeint würde, künstliche Eingriffe seien ganz natürliche Vorgänge, weil sie durch Menschen erzeugt werden. Dann wären sämtliche gesellschaftlich bedingten Behinderungen ganz natürlich und würden einfach zum Dasein gehören. Es würde bedeuten, dass auch die anderen gesellschaftlichen künstlichen Barrieren "schützenswert" wären. Würden sie abgebaut, könnte es bedeuten, dass Menschen, die heute als hochgradig autistisch gelten vielleicht gar nicht mehr als autistisch gelten würden. [Ironie]Es ist nicht nachvollziehbar, warum manche Autisten so erpicht darauf sind, Barrierefreiheit herstellen zu wollen.[/Ironie]
10.04.12, 12:12:19
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55555

(Standard)

Zitat von BR2:
Künstliche Eingriffe in den Organismus gelten allgemein als Körperverletzung, wenn der Betreffende nicht seine ausdrückliche Einwilligung dazu erteilt hat. Gemäß Grundgesetz besitzt jeder das Recht auf körperliche Unversehrtheit.

Das ist korrekt nach deutschem Recht, dennoch löst das eine ethische Diskussion aus meiner Sicht nicht. Etliche Faktoren haben Einfluß auf die Entwicklung eines Kindes im Mutterleib. Das was die Mutter tut ebenso, was sie isst, ob sie raucht. Wie man das im einzelnen bewertet ist eine Sache, die eine Gesellschaft in die Welt hineindeutet. Nehmem wir also an Autismus würde durch eine Impfung ausgelöst. Würde das das Selbstempfinden von Autisten verändern? Vielleicht wäre das der Fall, aber doch dann nur aus dem Wissen heraus, daß es nach Stand der Wissenschaft nicht genetisch vererbt würde, sondern eben durch eine "Nebenwirkung" entstehen würde. Autismus selbst würde sich aber nicht geändert haben. Also ist die eigentliche Frage, um die es hier geht die Reaktion behinderter Bevölkerungsgruppen auf kulturelle Vorgänge, wozu auch die Art zählt "Wissen" zu bestimmen.
Zitat:
die allgemein als Behinderung oder Schaden gelten

Ich denke es ist sinnvoll hier zumindest das halbsoziale Behinderungsverständnis der Behindertenrechtskonvention anzulegen, wonach Behinderung durch das Vorhandensein von Barrieren hergeleitet wird, und nicht aus Personeneigenschaften.
Zitat:
so sind dies Ursachen, die zu vermeiden sind im Hinblick auf die Unversehrtheit.

Wie antwortest du jemandem, der die Annahme vertritt es gäbe "Gendefekte" (eine kulturell bedingte Wertung von natürlichen Vorgängen, die an sich keinerlei Wertung aufweisen) und es sei ein Schaden, wenn diese Gendefekte in Samenbanken nicht aussortiert würden? Diese Gendefekte seien zu vergleichen mit "verunreinigten" oder "fehlerhaften" Arzneien?
Zitat:
Der Zeitpunkt des Eingriffs ist unerheblich, wobei sich über Ungeborene immer wieder gestritten wird, ab wann sie keine "Zellhaufen" mehr sind, sondern Menschen (im Fall von Menschen).

Nach deutschem Recht ist der Zeitpunkt zumindest schon ziemlich klar definiert.
Zitat:
Zu argumentieren, dass gesetzeswidrige Ursachen (mit nachrangigen gesellschaftlichen Behinderungsfolgen) geschützt werden sollten, empfinde ich als Haare sträubend.

Es geht hier wie erwähnt um eine ethische Diskussion, für die gesetzliche Bestimmungen nicht entscheidend sind. Es würde ja auch keine ethischen Diskussionen erübrigen, wenn per Gesetz festgelegt würde, daß Kinder mit bestimmten Genen immer abgetrieben werden müßten. Also sind wir hier gezwungen tatsächlich selbst völlig frei zu denken, was natürlich nicht ausschließt, daß sich jemand hinter die Maßstäbe bestimmter Gesetze stellt.
Zitat:
Zu fordern, dass bestimmte Menschengruppen "erhalten" werden sollten, was in den Fällen künstlicher Eingriffe, die zu Verletzungen der Unversehrtheit führen, bedeuten würde, dass ganz bewusst Körper verletzt und Gesetze gebrochen werden müssten, ist meiner Meinung nach ethisch nicht vertretbar.

Abgesehen vom oben schon ausgeführten: Stellen wir uns vor es gäbe eine starke Conti-Pride-Bewegung die eben dies verhindern will und die dafür eintritt, es nicht mehr als schädliche Nebenwirkung zu werten, wenn Kinder als Contis zur Welt kommen. Denn es ist wohl kaum zu leugnen, daß das Gesetz gar nicht klar festlegt, was als Schaden betrachtet werden kann und hier dann eben wieder durch kulturelle Vorstellungen erst eine Unterscheidung in "gesunde Vielfalt" und "Schaden" vorgenommen wird, die keineswegs so ganz selbstverständlich ist?
Zitat:
Dass manche Eingriffe so früh im Leben erfolgen, dass der Organismus praktisch nicht selbst urteilen kann, wie es ihm ohne diesen Eingriff ergangen wäre und dass er sich nachfolgend damit arrangieren kann, weil er nichts anderes kennt oder kennen will, dürfte meiner Meinung nach nicht für Rechtfertigungen herangezogen werden, künstliche Eingriffe zu befürworten, deren Resultate bekannt sind und die formal betrachtet eine Verletzung darstellen (mit nachrangigen gesellschaftlichen Behinderungsfolgen).

Stellen wir uns dann eine Gesellschaft vor, in der Contis völlig selbstverständlich in die Gestaltung der Gesellschaft einbezogen sind, so daß diese Eigenschaft genauso wenig behindernd wirkt wie Linkshändigkeit heute. In so einer Gesellschaft wäre dann vielleicht zwar irgendwann erkannt, daß ein bestimmter Wirkstoff die Kinder zu Contis macht, aber das würde dann vielleicht ebenso wenig als Schaden betrachtet wie ein Mittel, von dem bekannt wäre, daß es die Wahrscheinlichkeit erhöht, daß Kinder Linkshänder werden? Was lernen wir aus diesem Gedankenspiel?
Zitat:
Wenn es anders wäre, müssten Langzeitfolgen durch Psychopharmaka begrüßt werden, was offenkundig nicht der Fall ist. Weil es zu "wenig" Menschen mit ausgeprägten Verätzungen gibt, müssten nach der Logik mehr Menschen verätzt werden, damit die Verätzten nicht "aussterben"?

Das sind Fragen, um die es hier geht, ja. Und zwar mit dem Ziel eine möglichst objektive Regel zu finden, die eine Unterscheidung ermöglicht zwischen Personeneigenschaften, die die Gesellschaft verhindern sollte und solchen, die sie nicht verhindern darf. Und aus meiner Sicht kann hierbei die Entstehung einer Eigenschaft nicht das entscheidende Kriterium sein, da dies eben darauf hinauslaufen würde, daß vo der Weltwahrnehmung völlig identische Eigenschaften im einen Fall als Schaden betrachtet würden, den es zu verhindern gilt und im anderen Fall als Eigenschaft die nicht durch politische Maßnahmen in ihrem Bestand angetastest werden darf.
Zitat:
Oder die Behindertenrechtskonvention wäre überflüssig, wenn gemeint würde, künstliche Eingriffe seien ganz natürliche Vorgänge, weil sie durch Menschen erzeugt werden.

Die BRK befasst sich praktisch gar nicht mit dieser Thematik, sondern mit gesellschaftlicher Behinderung. Das ist ein ganz anderes Thema.
Zitat:
Dann wären sämtliche gesellschaftlich bedingten Behinderungen ganz natürlich und würden einfach zum Dasein gehören.

Nein, Behinderungen müssen beseitigt werden. Die sind aber etwas anderes als Personeneigenschaften (die Konvention bezeichnet diese als "impairment") um die es in dieser Diskussion geht. Völlig verschiedene Themen also.
Zitat:
Es würde bedeuten, dass auch die anderen gesellschaftlichen künstlichen Barrieren "schützenswert" wären.

Nein.
Zitat:
Würden sie abgebaut, könnte es bedeuten, dass Menschen, die heute als hochgradig autistisch gelten vielleicht gar nicht mehr als autistisch gelten würden.

Nein, weil es beim Abbau von Barrieren darum geht Teilhabe zu ermöglichen (nicht zu erzwingen). Teilweise berechtigt ist dieser Einwand jedoch, soweit er sich auf die Argumentation bezieht, man müsse lediglich vom Zustand einer Person ausgehen und solle nicht die Entstehung des Zustandes beachten. Hierzu wäre eine weitere Diskussion in der Tat interessant.

Ein deutsches Sprichwort sagt: "Unter den Blinden ist der Einäugige König!" Aber dieses Sprichwort stimmt nicht: "Unter den Blinden kommt der Einäugige ins Irrenhaus!"

Heinz von Foerster
10.04.12, 13:32:00
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