Schon nach den ersten Satz zeigen sich Symptome des Schwarz-Weiß-Mal-Syndroms. Die Betroffenen leiden unter der erheblich reduzierten Fähigkeit zu erkennen, daß Sachverhalte meistens Vor- und Nachteile haben. Sie scheitern daran auf Wertungen zu verzichten, wo es gesunden Menschen angebracht erschiene.
Zitat:
Das Erste, was den Ärzten auffiel, war, dass sie keine Reflexe hat. Der berühmte Kniesehnenreflex, bei dem der Arzt mit einem kurzen Klopfen auf das Knie den Unterschenkel vorschnellen lässt, funktioniert bei Meggie nicht. Ohne Saugreflex konnte sie nicht nuckeln, also ernährten die Ärzte sie künstlich. Dass sie auch keinen Würgereflex hatte, »beunruhigte die Ärzte ohne Ende, denn wenn etwas in die Luftröhre gerät, könnte sie ersticken«, erinnert sich der Vater. Diese Gefahr besteht bis heute.
Viele denken, wer keinen Schmerz fühlt, muss gefühllos sein, aber das ist ein Missverständnis: Wir alle haben Nerven, die Berührungen und Druck melden, auch Meggie. Meggie spürt jeden Händedruck und sie kann den Fuß mit Gefühl auf das Gaspedal senken, wenn sie Auto fährt. Aber die extrem dünnen Nervenfasern, die speziell für Schmerz und Temperatur zuständig sind, leiten bei ihr die Information nicht ans Gehirn weiter.
Was genau empfindet sie, wenn andere Schmerz fühlen würden? Etwa nach ihrer Hüftoperation, bei der ihr beide Oberschenkelhalsknochen gebrochen wurden? Meggie guckt unsicher zu ihrer Mutter, sie kann die Frage nicht beantworten. Es ist, als bitte man einen Farbenblinden um eine Beschreibung von Rot. »Vor der OP sprangen ihre Hüftköpfe immer aus den Hüftgelenken«, kommt ihre Mutter ihr zu Hilfe. Die Mutter zieht das Knie hoch, um zu imitieren, wie Meggie mit einem schnellen Ruck die Oberschenkelknochen wieder einrenkte. Cindy imitiert die herablassende Stimme des Kinderarztes, der dem Mädchen beschied, ›Nein, Kind, deine Hüfte kann nicht wirklich draußen sein, das wäre unerträglich schmerzvoll‹. Und dann fiel ihm die Kinnlade runter, als er die Röntgenaufnahmen sah.«
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Beim Frühstück muss sie den Toast so lange stehen lassen, bis sie sich nicht mehr daran verbrennen kann. Sie duscht lauwarm. Bob erinnert sich, als er die vierjährige Meggie zum ersten Mal ins Schwimmbad mitnahm. Sie spielte begeistert im Wasser, aber »plötzlich rollte sie sich in einer Embryo-Stellung zusammen und bewegte sich nicht mehr, wie eine Tote«. Bob versuchte hektisch, sie wiederzubeleben, hielt sie, schüttelte sie, massierte. Fünfzehn Minuten später schlug sie die Augen auf und sagte ihm, er sei der beste Vater der Welt. Sie hatte eine massive Unterkühlung, aber ohne die üblichen Warnzeichen. Bob wurde bewusst: »Bis sie merkt, dass etwas zu kalt oder zu heiß ist, ist es im Grunde zu spät.« Tests zeigen, dass sie zwischen 27 und 40 Grad Celsius schlicht keinen Unterschied spürt. Was heißer als 40 Grad wird, nimmt sie als warm wahr.
In ihren ersten Lebensjahren bewachten die Eltern Meggie mit Argusaugen. Nachts stürzten sie beim kleinsten Pieps ins Kinderzimmer, um als lebende Schmerzsensoren schneller zu sein, als das Kleinkind sich verletzen konnte. Oft kamen sie zu spät. Mehr als einmal zerbiss Meggie im Schlaf ihre Zunge zu einem blutigen Brei. Einigen Kindern mit HSAN ziehen die Ärzte die Milchzähne, um die Zunge zu retten, andere tragen Schnorchelbrillen, damit sie sich die Augen nicht auskratzen. Jeder, der schon einmal ein Staubkorn im Auge hatte, weiß, wie sensibel die Augen sind. Aber HSAN-Kinder reiben sich die Augen, bis sie ihren Sehnerv irreparabel beschädigt haben. »Wenn meine Eltern nicht so hartnäckig, klug und entschlossen wären«, sagt Meggie anerkennend, »wer weiß, ob ich überhaupt noch hier wäre?« Meggies Augen sind vernarbt, aber intakt. Weil ihr der Blinkreflex fehlt, nähten die Ärzte die Lider an den äußeren Enden zu, um die Augen vor dem Austrocknen zu schützen.
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Baseball ist die Leidenschaft ihres Lebens. Seit sie vier ist, hat sie fast jedes Spiel ihrer geliebten Cincinnati Reds gesehen, immer im Trikot. Sie hat selbst versucht, Fußball und Baseball zu spielen, aber als ein 100-Kilo-Kerl bei einem Turnier das schmächtige 35-Kilo-Mädchen über den Haufen rannte, verboten ihr die Eltern den Sport. Meggie versucht, sich »auf die Sachen zu konzentrieren, die ich machen kann. Das Zweitbeste ist, einer der hartgesottensten Fans meiner Reds zu sein und eine wandelnde Enzyklopädie der Baseball-Geschichte«. Baseball-Funktionär Bud Selig war so beeindruckt von ihrem Engagement, dass er ihr eine bezahlte Stelle anbot. Seit 2011 arbeitet Meggie neben der Schule als Jugendkorrespondentin der nationalen Baseball-Webseite. Ihr Spitzname unter den 30 Kollegen ist »Scoop«, weil sie es schafft, den Spielern Geständnisse zu entlocken, die sonst keiner kriegt. Meggie ist tatsächlich eine begabte Journalistin und für ihr Alter sehr weit. »Schreiben ist für mich ein Weg, etwas zu bewirken. Wenn ich jemanden zum Lächeln bringen oder inspirieren kann, macht mich das glücklich.«
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Meggie möchte selbst Kinder und sagt, sie werde sie lieben, egal ob sie mit HSAN geboren werden oder nicht. »Ich wünsche es meinem ärgsten Feind nicht«, sagt Meggie, »andererseits kenne ich es in- und auswendig, also könnte ich ihnen helfen, es durchzustehen.«